Nur ein winziges Taro-Bällchen…

„Tatata – wosch! Tatata-wosch!“

Noch sind meine Augen geschlossen. Und es hämmert in meinem Kopf. Für einen Moment denke ich, wir wären noch zuhause in Berlin.

„Tatata – wosch! Tatata-wosch!“

Seit Monaten traktiert uns unsere Hausverwaltung mit Bauarbeiten im Erdgeschoss.

„Tatata – wosch! Tatata-wosch!“

Wände werden eingerissen, wieder aufgebaut, dann nochmal eingerissen und wieder anders aufgebaut. Das ist jedes Mal mit viel Lärm verbunden. Meist zwischen 7.00 und 8:00 Uhr früh.

„Tatata – wosch! Tatata-wosch!“

Dann öffne mich meine Augen. Atme tief ein. Kein Frage, das ist nicht Berlin, das ist China! Ein wenig muffig riecht es, ein leichter Duft von Knoblauch und Ingwer liegt in der Luft.

Ich öffne das Fenster und blicke nach draußen.

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Die Ankunft in Shanghai war erstaunlich angenehm. Schon der Abflug in Berlin lief viel einfacher als gedacht. Fluggesellschaften haben die Angewohnheit, Radfahrer zu traktieren, wo sie können.

Legendär schon meine Yangzi-Tour vor fünf Jahren:
Bikes on Planes 1
Bikes on Planes 2
So stellte sich Turkish Airlines auch stur, als ich anfragte, ob sie unser Rad und den Anhänger kostenfrei mitnehmen würden, schließlich blieben wir ja auch mit dem Radequipment unter den erlaubten 30 Kilogramm pro Person. Nichts da, hieß es, 90 Euro würden beim Einchecken pro Rad fällig. Am Schalter in Berlin-Tegel hatte Turkish Airlines entweder nachträglich ein Einsehen oder der Mann am Schalter einen guten Tag.

Wie auch immer, wir haben 180 Euro gespart und sind zudem auch noch mit intakter Ausrüstung in Shanghai angekommen. Eine unserer größten Sorgen ist damit vom Tisch: Wir haben Tandem und Anhänger ohne größere Schäden in China und können losfahren!

In Shanghai hatten wir dann einen fürstlichen Empfang. Annette, eine Freundin aus Studientagen schickt ihren Fahrer vorbei, wir klemmen das Gepäck ins Auto, spannen einen Gummigurt über die harausragende Radtasche und sind eine Stunde später in einem typischen Reihenhaus aus dem 1920er Jahren in der ehemaligen französischen Konzession. Ein kurzes aber schmackhaftes Essen und ein Glas Wein später lagen wir schon im Bett und vielen in einen traumlosen Schlaf.

„Tatata – wosch! Tatata-wosch!“

Das war dann der Morgen. Endlich in Shanghai und immer noch neben einer Baustelle! So stehen wir aber wenigstens früh auf, frühstücken und gehen dann auf Shanghai-Besichtigung. Die Metro bringt uns nach Pudong. Zornica, die fünf Jahre nicht mehr in China war, hat einen Kulturschock („Ist die Metro sauber! Auf den Straßen liegt kein Müll mehr!“) Auch die Kinder können sich relativ ungestört durch Shanghai bewegen, ohne dass ihnen ständig über den Kopf gestreichelt wird oder sie als Fotomotiv dienen. Eine weitere Sorge weniger, wir hatten befürchtet, mehr Aufsehen zu erregen. Aber noch sind wir ja nicht mit der Familienkutsche unterwegs!

Das Wetter zeigt sich nicht von der besten, aber auch nicht von der üblen Seite. Bedeckt ist es und die Wolken hängen tief. Die Frau am Ticketschalter des Word Financial Center, mit 492 Metern das zweithöchste Gebäude Shanghais, weist sicherheitshalber darauf hin, dass wir auf der Aussichtsplattform kaum was sehen werden, kennt dann aber kein Erbarmen beim Ticketverkauf. Sarah, gerade über die entscheidende Ein-Meter-Marke geschossen, muss ein Ticket kaufen. Für das Fast-Nichts-Sehen zahlen wir 450 RMB, 65 Euro. Immerhin, Nora darf kostenlos auf den Turm.

Trotz diesigem Wetter hat sich der Trip aber gelohnt:

Am Abend schraube ich ein wenig an den Rädern herum und dann finden wir ganz in der Nähe ein ausgezeichnetes Sichuan-Restaurant. Am Nebentisch begrüßt uns ein etwa 60-jähriger Chinese in perfekten Englisch und fragt, wie wir denn ausgerechnet auf dieses Restaurant gekommen seien. „Das ist das Stammrestaurant meines Vaters!“, sagt er, „das beste in der Gegend!“ Der Vater nickt, sein Sohn erzählt, dass er seit mehr als zehn Jahren in Kanada lebt und nun seinen 90-jährigen Vater besucht. 90 Jahre, da hat er so ziemlich die ganze Entwicklung Chinas von der Monarchie über Republik über die Kulturrevolution bis heute miterlebt. Das sage ich dem Sohn und frage ihn, was sein Vater wohl von der augenblicklichen Entwicklung hält.

„Es geht uns so gut wie noch nie!“, antwortet statt dessen sein Vater.

Das Essen ist tatsächlich ausgezeichnet. Das Ambiente des Restaurants gleich jedoch eher dem typischen Italiener in einer deutschen Kleinstadt, mit naiven Landschaftmalereien an der Wand und Resopalverschalung. Vielleicht war der Vorgänger tatsächlich ein italienischer Emigrant aus Bad Hersfeld.

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Wir fahren kräftig auf und lassen es uns schmecken. Unsere Kinder bestehen dennoch auf einer Schüssel Reis mit Salz. Ich bin mir sicher, dass Sarah und Nora auch an dem einen oder anderen Gericht Gefallen finden könnten und habe extra Congyou Bing 葱油饼 bestellt, eine Art Kartoffelpuffer mit Zwiebeln. Dazu leicht süße, frittierte Tarobällchen. „Jeden Tag probiert ihr ein Gericht, wenn ihr es nicht mögt, braucht ihr es nicht zu essen!“. postuliere ich. Sarah macht eine riesen Szene, heult sich die Seele aus dem Leib und beißt schließlich mit Widerwillen in ein Taro-Bällchen. Nora löst solche Situationen wie immer ganz cool. Sie nimmt ein Bällchen, beißt kurz und vorsichtig herein, sagt „Schmeckt nicht!“ und legt es wieder auf den Teller. „Bekommen wir jetzt was Süßes!?!“, fragen beide Kinder unisono.

„Nur noch ein winziges Tarobällchen?“, bettle ich und denke dabei an den Ober in Monty Pythons „Sinn des Lebens“. Explodiert ist von uns keiner, die Tarobällchen gingen aber leider auch zurück.

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2 Comments:

  1. Das mit dem fueh aufstehen ist einer Frage der Perspektive. Ich hatte, als Ihr „frueh“ aufgestanden ward, ja schon 2X 500 kg Lebendgewicht durch die Gegend geschoben. Da haben andere gerade erst Kaffee getrunken….

  2. Ja, die Kinderchen wissen einfach nicht was lecker ist! Unsereins futtert sich mit Freuden durch die asiatischen Spezialitäten und sie wollen Reis mit Salz!!
    Greta ist ja mittlerweile wenigstens für Fisch zu begeistern…es gibt also Hoffnung.
    Haltet durch mit eurer Strategie: jeden Tag eine Sache probieren!

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