Zu Gast bei Freunden

Das Hämmern der Baustelle scheint schon eine Ewigkeit zu dauern. Ich erinnere mich an mein Studium in Peking, an die durchsägten und durchkreischten Nächte der Baustelle gegenüber meines Wohnheimes. An Schlaf war kaum zu denken, auch durch das Flutlicht, dass nicht nur die Baustelle, sondern auch mein Zimmer die ganze Nacht durch erleuchtete. Chinas Boom dultete in den 1990ern keinen Aufschub, es gab kein Wochenende, keine Feiertage, keine Nachtruhe. In drei Schichten zu acht Stunden wurde durchgearbeitet, zur Freude der Arbeiter, die sich nicht in die Schar der arbeitslosen Wanderarbeiter einreihten und zudem gutes Geld nach Hause schickten. Ein bis zwei Jahre arbeiten sie in den Großstädten, dann war das Familienhaus im Heimatdorf fertig. Manchmal habe ich mich am Morgen zu ihnen gesetzt, eine Zigaretten mit ihnen geraucht und ein wenig geplaudert. Hart war die Arbeit, und schön war es auch nicht, mit 50 anderen Arbeitern in einer Barakke zu hausen. Aber sie hatten Arbeit, das zählte!

Die Studenten waren von der Baustelle gar nicht begeistert, und bewarfen die Baustelle zuweilen vom Wohnheimhochhaus mit Bierflaschen.

Ich habe seit damals eine hohe Lärmtoleranz, was chinesische Baustellen angeht, und das wird uns heute zum Verhängnis. Als ich mich zwischen zwei Kreissägen-Kreischern endlich aus dem Bett schäle, ist es 13:30 Uhr, chinesische Zeit! Nach deutscher Zeit der perfekte Moment, den Tag zu starten. In Shanghai, an einem Tag, an dem wir eigentlich eine Probetour durch die Stadt machen wollten, eine Katastrophe!

Ich gehe zu Nora und Zornica ins Zimmer und finde letztere gutgelaunt beim Morgenkaffee. Sie hat noch Istanbul-Zeit auf ihrem Mobiltelefon und fällt entsprecht aus den Wolken, als ich ihr die wahre Zeit mitteile.

Der Tag ist mehr oder weniger gelaufen, das ist uns klar. Während Zornica die Kinder aufweckt, gehe ich zur Garage und montiere das Tandem und den Anhänger. Glücklicherweise haben beide den Flug gut überlebt, nur die Kettenverschalung des Anhängers hat ein kleines Loch, trotz Bläschenfolienummantelung.

Nach einer guten Stunde ist unsere Familienkutsche fahrbereit, Zornica hat derweil mit den Kindern gefrühstückt. Bis zum Bund, der Shanghaier Uferzeile, ist es zu weit, daher beschließen wir, eine Runde durch die ehemalige Französische Konzession zu drehen. Der Verkehr hält sich in Grenzen, wir steuern sicher durch die Platanenalleen auf schmalen, aber gut markierten Radwegen. Zuweilen kommt uns ein Motorroller entgegen und bremst vor Schreck ab.

„Wo zao!“, starrt uns ein etwa 50-jähriger Mann hinterher. Mit „verfickt noch mal“ wörtlich aber nicht unbedingt adäquat übersetzt. „Niubi“, Kuhmöse, trifft es schon eher: Das entspricht dem deutschen „geil“ und wir hören es alle paar Sekunden. Immer wieder wird gezählt: „Eins, zwei, drei, vier Sitze! Da können vier Leute drauf sitzen, zwei Erwachsene und zwei Kinder!“

Eine junge Frau spricht uns in bestem Englisch an und will wissen, wo wir den Anhänger gekauft haben. Ich gebe ihr die Internetadresse und sie ist glücklich. „Ich habe Zwillinge, da ist der Hänger ideal!“, ruft sie. Zwei Afrikaner überholen uns mit einem Motorroller und rufen „Happy Easter!“. Während Zornica und die Kinder für die morgige Etappe einkaufen, parke ich unsere Familienkutsche auf einem markierten Parkplatz mit Parkuhr. Der Parkwächter kommt herüber und überlegt sichtlich, ob er etwas sagen soll. Doch was kostet das Parken für so ein Gerät? Ist das nun noch Fahrrad oder schon Auto?

„Ziemlich lang!“, bemerkt er schließlich und geht wieder.

Kurz nach 18:00 Uhr sind wir wieder zurück und haben immerhin acht Kilometer zurückgelegt. Ich mache noch ein paar Feinjustierungen am Tandem, vor allem die Schutzbleche schleifen ein wenig und müssen zurechtgebogen werden. Dann steht die Kutsche bei Annette vor der Wohnungstür und ist abfahrbereit.

Am Abend hat uns ein chinesischer Freund zum Essen eingeladen. Xu Gufu ist traditioneller Maler und Kalligraph, Zornica kennt ihn noch aus ihrer Zeit in Prag. Seine Frau, Zhang Qinhua ist eine bekannte Shanghaier Sängerin. Eigentlich sind mir solche Einladungen ein Graus. Die chinesische Etiquette ist sehr formell, meist werden in kurzer Zeit Unmengen Essen verdrückt, literweise Schnaps gesoffen und jeder achtet peinlichst genau darauf, nur nicht aus der Rolle zu fallen. Wenn der Gastgeber beschließt, jetzt sei es an der Zeit, enden solche Veranstaltungen meist abrupt nach gut einer Stunde. Was bleibt sind Sodbrennen, salmakhaltiges Aufstoßen vom Hirseschnaps und das Gefühl, genau das Gegenteil von dem erlebt zu haben, was die Chinesen 玩 „wanr“ nennen: Spaß haben. Wenn ein Chinese „hao wanr“, viel Spaß, ankündigt, ist meist Langeweile angesagt.

Das Restaurant, in das uns Xu führt, bestärkt erst einmal meine Befürchtungen. Nobelschuppen würde man bei uns sagen. Und das mit unseren beiden agilen Kindern!

Es wird wider Erwartens ein sehr entspannter, kulinarisch phatastischer und vor allem netter Abend.

Das Vergnügen fing schon beim Essen an:


(Die Kinder hatten Reis mit Salz. Nora noch ein paar Nudeln. Und, ja, jedes Kind ein Stück Torte!)

Xu Gufu und Zornica schwelgten in alten Prager Zeiten, Zhang Qinhua sang chinesische, russische und deutsche Lieder, so dass es vor Rührung ganz still wurde im Restaurant. Die Kinder tauten nach ein paar Minuten Schüchterheit auch auf und spielten mit Xu und Zhang das „Fotografier-Versteckspiel“: „Fotografier mich doch, wenn Du es schaffst!“

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Nur Xu’s Sohn saß ein wenig schüchtern an seinem Platz, vielleicht auch, weil seine Mutter alle fünf Minuten rief, es solle mit mir nun sein Englisch praktizieren. Worauf er recht wenig Lust hatte.

Gegen Ende des Abends feierten wir noch Zhangs Geburtstag, die Kinder rannten um die Tische und kletterten auf Xu herum, während er ihnen auf dem Mobiltelefon seine Bilder und Kalligrafien zeigte. Es wurde ein wunderbarer, gar nicht formeller Abend, den wir zwar kugelrund, aber immerhin kaum intoxikiert (es gab glücklicherweise gerade einmal vier Bier zum Essen, die zur Hälfe bei mir hängenblieben) beendeten.

Gegen Mitternach fielen wir dann angenehm entspannt in die Federn. Morgen heißt es dann wirklich früh aufstehen!
Herzlichen Dank Annette und Mark für die Gastfreundschaft!!!


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