Ist das die Wetterwende?
Wieder einmal ziehe ich die Vorhänge des Hotelzimmers auf und werde von strahlendem Sonnenschein geblendet. Wo verstecken sich die Wolken? Ist dies wieder nur ein einzelner sonniger Tag und morgen radeln wir wieder durch strömenden Regen?
Ein paar Mal habe ich es schon bereut, nicht doch den optionalen Regenschutz für unseren Anhänger gekauft zu haben statt die Sonnenmarkisen. Aber dann hätten wir ja auch mit einem Chariot fahren können und die Kinder hätten ebensowenig von der Reise gesehen.
Unser Hotelzimmer liegt im 11. Stock und wir blicken auf eine Straßenschlucht. „Singapur des Nordens“ hatte ich einmal in einem Artikel über Dalian geschrieben. Das war 2006 und die Stadt hatte mich begeistert.
Seit Qingdao sind wir aber vorgewarnt, was postitive Erwartungen angeht. Mit einer gehörigen Portion Vorsicht begeben wir uns auf Stadtbesichtigung, auch, weil der Verkehr eher an Bangkok als an Singapur erinnert. Selbst für chinesische Verhältnisse eher chaotisch!
Und dann geht mein Herz auf: Die alte Tram, Dalians koloniales Erbe, gibt es noch!
Überhaupt hat sich auch in Dalian in den letzten neun Jahren seit meines letzten Besuches nicht viel geändert. Die Tram bringt uns zur „Malerischen Russischen Straße“, eine der Hauptattraktionen der Stadt.
Wie alle Kolonialstädte in China hat auch Dalian eine relativ kurze Geschichte. Die Halbinsel Liaodong, an deren Spitze Dalian liegt, war lange Zeit Zankapfel zwischen Rußland und Japan. Nachdem China Liaodong 1895 als Folge des verlorenen japanisch-chinesischen Krieges an Japan abgetreten mußte, gelang es Rußland, mit Unterstützung der Deutschen und der Franzosen, die Japaner zur Aufgabe ihrer Position zu zwingen und die Halbinsel als Konzession zu beanspruchen. Die Russen begannen sogleich, an der Spitze der Halbinsel Hafenanlagen zu errichten, in dem Bestreben, neben Wladiwostok einen zweiten, eisfreien Hafen für die russische Flotte zu schaffen. Bereits 1904 kam es jedoch wieder zu Zusammenstößen mit Japan, die im Mai 1905, nach einer verheerenden Niederlage der russischen Flotte gegen ihren japanischen Gegner, zur Rückgabe Dalians an die Japaner führte. Diese bauten den Hafen weiter aus und machten ihn bis Anfang der 1930er Jahre zu einem ihrer wichtigsten Versorgungsposten. Mit der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg kamen 1945 die Russen wieder zurück nach Dalian und blieben bis Mitte der 1950er Jahre. Seitdem ist Dalian wieder in chinesischer Hand und ist heute der bedeutendste Hafen Nordchinas.
Ein Stück Rußland verspricht die „Malerische Straße“. Ganz klar ist es jedoch nicht, an wen sich die Sehenswürdigkeit eigentlich wendet. Vor mehr als hundert Jahren mögen hier die russischen Gebäude dominiert haben, heute ist die Straße und das umliegenden Viertel eine fast schon wieder reizvolle Mischung aus russischerem Kolonialerbe und spät-sozialistischer Plattenbauarchitektur. Während an beiden Seiten der als Fußgängerzone ausgebauten Straße die Reste russischer Kolonialvillen stehen, wird an vielen kleinen Ständen Rußlandnippes vom Erlesensten angeboten. Petersburg meets Disneyland, schießt es mir durch den Kopf. Seit 2006 hat der Disney-Faktor noch zugenommen. Als Wahl-Berliner erinnere ich mich angesichts der breiten Auswahl an Matrjoschka -Puppen und Pelzmützen an die Russenmärkte in den frühen 1990er Jahren rund um das Brandenburger Tor.
Die Kinder genießen die autofreie Fläche und jagen zwischen Andenkenbuden und Springbrunnenensembles hin und her. Zornica hat ihren Spaß an der russischen Verschriftung chinesischer Ausdrücke, die ähnlich viel Sinn geben wir das allgegenwärige Chinglish.
Gut zwei Kilometer weiter nördlich wird es dann amtlich-russisch: Hier am Sun-Yatsen-Platz pflegt Dalian sein russisches Erbe! Den 22 000 Quadratmeter großen Platz, der 1899 von russischen Architekten entworfen wurde und der auch heute noch unumstrittenes Zentrum der Stadt ist, säumen prachtvolle Bauten im europäischen Stil: Das Dalian Hotel im Süden, die Kulturhalle des Volkes und die 1909 gebaute Bank of China direkt gegenüber. Hinter den historischen Bauten ist die spiegelverglaste Skyline Dalians in die Höhe gewachsen.
„Hier ist es wunderschön! Dürfen wir hier bleiben?“, rufen unsere Töchter und ernten sicherlich keinen Widerspruch.
Einige vereinzelte Drachen schaukeln im Himmel, ein alter Mann in Mao-Anzug übt Taiji-Figuren. Die Hauptattraktion heutzutage scheinen aber die vielen handzahmen Tauben zu sein, die jedem willigen Futterspender im Wortsinne aus der Hand fressen. Erst ziert sich Sarah noch ein wenig, bekommt eine kurze Panik, als sich gleich zwei Tauben auf ihren Kopf und ihre Schultern setzten.
Dann werden aber zusammen mit einem chinesischen Mädchen in Sarahs Alter hemmungslos Tauben fett gefüttert, während ein gutes Dutzend Objektive, unsere eingeschlossen, auf Kinder und Tauben gerichtet sind.
Das reicht dann für den ersten Tag.
Am nächsten Tag ist uns das Wetter weiterhin hold und wir gehen nochmals auf koloniale Spurensuche. Auch die Japaner hatten ihr Viertel, zehn Minuten zu Fuß von unsrem Hotel entfernt. Seltsamerweise hatten die Japaner es aber weniger mit der eigenen, sondern eher mit der deutschen Architketur und so sieht es hier auch eher aus wie in einer badischen Kleinstadt.
Gegen das Heimweh der Kinder hilft das ein wenig!
Auf dem Rückweg machen wir Station in einem öffentlichen Park. Das ist das Dalian, an das ich mich erinnere, herzlich aus der Zeit gefallen, luftig und modern, dennoch seinem historischen Erbe bewusst. Alte Männer spielen Schach, ein Kaligraph malt vergänglich Schriftzeichen mit Wasser auf den Boden.
In einer Ecke hängen zwei Käfige mit jeweils einem Beo. Das die Vögel besser als Papageien sprechen können, beziehungsweise nachahmen, was man ihnen sagt, habe ich schon in Thailand erlebt. Die beiden Vögel schießen aber ihresgleichen ab!
„Der Osten ist rot“ und Gedichte von Li Bai. Das wäre so, als würde ein Papagei im Kurpark von Bad Mergentheim Schillers „Glocke“ rezitieren und dann Beethovens „Ode an die Freude“ singen.
Nun gut, zugegeben: Chinesischer Schulunterricht läuft leider nicht viel anderes ab, als das, was die Vögel da praktizieren. Da können Zornica und ich aus unser gemeinsamen Studienzeit in Peking ein Lied von trällern!
Zuerst gönnen wir uns und den Kindern aber einen koffein- (wir) und zuckerhaltigen (die Kinder) Absacker in einer hippen umgebauten ehemaligen Lagerhalle am Hafen namens „15库“, ein Wortspiel zwischen „Speicher (ku库)“ und „Cool (ku酷)“
Hier treffen sich die schicken und hippen Menschen aus Dalian! Naja, und wir waren auch da!
Der Wikipedia-Artikel trams in Dalian ist gemäss den Häringschen Aufnahmen schon wieder überholt.
Die Foto zeigt eine Straßenbahn auf Linie 203; gemäß Wikipedia wurden die Linien 201 und 203 zusammengelegt. Der Wagen ist offenbar ein DL 3000, aus den 1930er Jahren, von Japan geliefert, ähnlich den Witt-Wagen, die heute noch in Mailand fahren.
Stimmt was Wikipedia sagt: Das Personal der Straßenbahnen ist ausschliesslich weiblich?
谢谢
Lieber Thomas,
einmal ein Foto aus dem „Archiv“ genommen, und schon fällt es uns auf die Füße! 😉
Die alten Wagen fahren tatsächlich noch, wir hatten nur leider nicht die Lichtverhältnisse und die Zeit, eine Nahaufnahme zu machen, daher das „Archivbild“. Dieses habe ich allerdings Ende September 2006 gemacht, so dass es trotzdem fraglich ist, ob der Wikipedia-Artikel stimmt.
Auf jeden Fall gibt es auch Männer am Steuer, wie auch das besagte Bild zeigt.
Im Wagen kontrollieren dann allerdings anscheinden nur Frauen die Tickets bzw. kassieren den Fahrpreis von 1 oder 2 RMB ein (da hat Wikipedia recht!)
Viele Grüße aus Shanhaiguan,
Volker
谢谢!
Ich war wieder zu genau mit den Bahnen…
Auf jeden Fall gut, ist euere Kutsche nicht in die Rillenschienen der Bahn gefallen.
Weiterhin gute Fahrt!
Gestern bin ich dafür beim nächtlichen Einkaufen fast in einen Spalt zwischen zwei Betonplatten gefahren. Denkbar blöd: Erst Pfütze, Füße hoch, dann gleich Spalt als das Gefährt am unstabilsten war!
Ist aber noch gut gegangen!
Das Tram-Foto wurde nicht Ende September 2006 geschossen, sondern am 10. September 2005. So gegen 10:23 Uhr Ortszeit 😉
Christof (Exif-Spanner)