Endlich wieder vereint! Und der Blick aus dem Hotelzimmer verheißt gutes Wetter!
Den Regen haben wir wohl hinter uns gelassen. Warm ist es nicht unbedingt, aber auch nicht mehr so frisch. Ideales Radlerwetter folglich, und wir schaffen es tatsächlich, zum ersten Mal vor 11:00 Uhr loszufahren.
Die ersten Kilometer führen uns durch das Musterländle Jiangsu. Die chinesische Provinz ist nicht umsonst Partnerregion von Baden-Württemberg. Schon gestern war mir die aufgeräumte, fruchtbare Landschaft mit den schmucken Dörfern aufgefallen, die durchaus Ähnlichkeiten mit dem Badischen Land kurz nach der Kehrwoche hatte. Nur das hier die Flurbereinigung noch nicht drübergegangen ist und das Ganze eher kleinteilig ist. Beziehungsweise erst bei der Kollektivierung in den 1950er Jahren die Parzellen zusammengefasst und dann in den 1980ern wieder aufgeteilt wurden. Die Bauern freut es, wirklich produktiv ist es wohl nicht. Uns als Radfahrer kommt es entgegen, da in regelmäßigen Abständen Obst- und Gemüsestände am Straßenrand aufgebaut sind und frischen Proviant liefern.
Wir fahren kilometerlang durch Reis- und Gemüsefelder, Raps und Teesträucher säumen den Wegesrand. Am Horizont zeichnen sich sanfte Hügel ab. Landschaftlich nicht ohne Reiz!
Die ersten Kilometer ziehen sich dann doch ein wenig, weil wir den Hügeln gefährlich nahe kommen und die eine oder andere Steigung mitnehmen müssen. Der Wind kommt von Nordost, was für den ersten Abschnitt definitiv die falsche Richtung ist. Obwohl wir in den Ebenen inzwischen ganz gut harmonieren, suchen wir bei Steigungen immer noch nach dem perfekten Rhythmus. Vielleicht sollten wir es mal mit Musik versuchen?
Nach zwanzig Kilometern sehen wir uns nach einem Platz für die erste Rast um. Da kommt ein Straßenstand mit Erdbeeren gerade recht.
Die Erdbeeren schmecken ausgezeichnet. Sarah und Nora fallen gierig über ein gutes Kilo Beeren her. „Braucht ihr nicht zu waschen, die sind direkt vom Feld!“, erklärt uns Bäuerin Luo. Jeden Tag steht sie hier wie ein paar Hundert andere Bauern am Straßenrand und verkauft ihre frisch geernteten Erdbeeren.
Fast wie in Brandenburg! Nur der Spargel fehlt. Ob das Geschäft gut läuft, frage ich sie. „Eigentlich ganz gut!“, erzählt Frau Luo. „Neben Erdbeeren bauen wir noch Trauben an. Die verkaufen sich noch besser!“ Dann zählt sie ein halbes Dutzend Traubensorten auf, die ich beim besten Willen nicht zuordnen kann. Chardornnay meine ich verstanden zu haben und Cabernet. Vielleicht täusche ich mich auch, frage aber trotzdem, ob sie auch Wein herstellen. Nein, aber Erdbeerwein würden sie produzieren, erzählt Frau Luo, der sei sehr lecker und würde sich gut verkaufen!
Wir bleiben bei den frischen Früchten und nehmen zwei Plastikbeutel Erdbeeren mit auf die Reise, einen für Sarah und einen für Nora. In Jurong, unserer Mittagsstation, sind diese entweder aufgegessen oder zermatscht. Erdbeerwein-Rohmasse sozusagen!
Nach der Mittagspause biegen wir auf die Staatsstraße 109 Richtung Westen und fahren dann wie auf Schienen. Flüsterasphalt auf breitem, abgetrennten Radweg bei Rückenwind! Das macht sogar Zornica Spaß und Sarah ruft von hinten: „Hui, ist das schnell!“ Auf einer kleinen Abfahrt knacken wir dann sogar die 40-Stunden-Kilometer-Grenze! Wenn die Familienkutsche einmal in Schwung ist, dann rollt sie famos!
Etwa zwanzig Kilometer vor dem Ziel haben wir Nanjing erreicht. Sechs Millionen Einwohner müssen irgendwo untergebracht werden, und so reiht sich Trabantenstadt an Trabantenstadt. In amerikanischen Filmen würden hier Fuchsschwanzsträucher durchs Bild wehen, augenblicklich ist es nur Baustaub, der durch die leeren Straßenschluchten bläst.
Das sind die Viertel, durch die ich seit Jahren immer mal wieder fahre, jedes Mal „Investitionsruinen“ denke und ein paar Jahre später, wenn ich mal wieder vorbei komme, lebhafte Stadtviertel vorfinde, mit Taiqi übenden alten Männern, vollen Restaurants und Verkehrsstau.
Heute ist uns die weite Leere aber sehr recht, es rollt gut! Bis nach einer Straßenkreuzung entweder dem Investor das Geld ausgegangen ist oder die Anwohner sich gegen den Abriss ihrer Häuser gewährt haben. Die sechs Spuren verengen sich innerhalb weniger Meter auf eineinhalb und wir fahren in eine Art Dorf ein, mit der entsprechenden Infrastruktur. Die Nudelbude liegt gegenüber dem Tante-Wang-Laden, auf der anderen Straßenseite verpasst ein Friseur der Nachbarschaft den ortüblichen Einheitsschnitt. Vor einem Haus schnippelt eine ältere Frau das Gemüse fürs Abendessen. Die Nanjinger Stadtbusse vergessen anscheinend, dass die sechsspurige Straße hier zu Ende ist und fahren mit vollem Schwung in das Nadelöhr.
Das geht solange gut, wie kein anderer Bus entgegenkommt.
Aber chinesischer Verkehr ist sowieso immer eine Millimeterangelegenheit. Das bekommen wir umso deutlicher zu spüren, desto näher wir dem Stadtzentrumkommen. Von Shanghaier Zurückhaltung keine Spur, hier wird jeder Zentimeter zum Rangieren ausgenutzt und auch unsere Familienkutsche schindet nur wenig Eindruck. Was hilft ein gerauntes „Wow“, wenn die Person, von der es kommt, versucht, knapp vor Dir einzuscheren und dabei Deine Geschwindigkeit vollkommen unterschätzt?
Aber es ist vor allem die Länge unserer Familienkutsche, die die meisten Verkehrsteilnehmer überrascht.
Von vorne gesehen gestaltet sich das so:
1. Langnase auf Fahrrad: Ok, schon gesehen, kommt vor!
2. Hoppla, das sind ja zwei!
3. Schau mal, da kommt noch was!
4. Kinder, da sitzen Kinder!
5. Zwillinge!
6. Dummkopf, die eine ist größer!
7. Cool!
8. Hoppla, das Bremsen vergessen!
Auf jeden Fall sind wir froh, als wir die Stadtmauer von Nanjing sehen und die Innenstadt erreicht haben. Die Hotelsuche gestaltet sich noch ein wenig schwierig, da wir, sobald wir zur Orientierung anhalten, von einer Menschenmasse umringt sind, die uns mit Fragen bombadiert und die Kinder unbedingt auf ihre Mobiltelefone bannen möchte. Wir haben an der Freiluft-Arbeitsbörse angehalten, und so verkürzen wir den Tischlern, Steinmetzen, Putzfrauen und Kindermädchen die Wartezeit auf einen neuen Job.
Das Hotel ist glücklicherweise nur eine Straße weiter auf dem Navi eingezeichnet. Wir checken problemlos ein und der Hunger treibt uns gleich wieder auf die gegenüberliegende Straßenseite. Da fährt ein Mao-Nostalgie-Restaurant eher gut bürgerlich-chinesische Küche auf – wenig revolutionär, aber sehr schmackhaft!