Wo ist der Berg?

Der Taishan ist eng mit dem chinesischen Schöpfungsmythus verknüpft. Einst, als der Kosmos noch im Chaos lag und Erde und Himmel noch eins waren, wurde Pangu zwischen Himmel und Erde geboren. Durch sein Wachstum schob er diese immer weiter auseinander, bis sie nach 18.000 Jahren vollständig getrennt waren und Pangu aus Erschöpfung starb. Seine Augen wurden Sonne und Mond, sein Blut verwandelte sich in die Flüsse und sein Kopf und die Extremitäten bildeten die fünf heiligen Berge Chinas. Der Taishan ist der Kopf Pangus, und so fällt ihm eine wichtige Rolle in der chinesischen Mythologie zu.

Den Berg zu besteigen heißt nicht nur, dem Himmel ein Stück näher zu sein, es ist auch ein Symbol für die Harmonie zwischen Himmel und Erde. Die Kaiser, denen das vom Himmel verliehene Mandat auch entzogen werden konnte, bestiegen den Berg als Zeichen ihrer engen Beziehung mit den Mächten des Himmels. Eigentlich hätten sie die Runde zu allen fünf heiligen Bergen machen müssen, die meisten ließen es aber bei der Besteigung des Taishan als Symbol ihrer Himmelsnähe bewenden.

Wir würden es gerne mit einigen hunderttausend Chinesen im Jahr halten und den Taishan besteigen. Aber, wo bitteschön, ist der Berg?

Aus unserem Zimmer im achten Stock sollten wir ihn eigentlich sehen. Stattdessen haben wir diesen Ausblick, der allenfalls die Solarindustrie glücklich macht:

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Grau in Grau präsentiert sich Tai’an und der Berg hüllt sich in wolkiges Schweigen. Ohnehin wollten wir es nach dem gestrigen Regentag und meiner Solofahrt ruhig angehen lassen. Selbst die Kinder waren gestern erst um Mitternacht im Bett, da ist erst einmal Ausschlafen angesagt!

Wir hatten gestern bei einem angenehm scharfen Sichuanessen Familierat gehalten. „Vier Nächte hier bleiben!“, hatte Sarah gerufen, der das Hotel sehr gefällt. Und vier Nächte sollen es sein. Das heißt: Vier Nächte für die Familie und drei für mich. Wir hatten uns die Topographie der Strecke nach Qingdao noch einmal angeschaut und eingesehen, dass wir das nach den bisherigen Erfahrungen nicht schaffen werden. Zornica kränkelt, die Kinder maulen: Eine Radpause tut der Familie gut und wir bleiben auf diese Weise im Zeitplan.

Eile haben wir also nicht mehr, und genießen einen wunderbar entspannten Tag. Das Einzige, was heute auf dem Programm steht, ist der Dai-Tempel am Fuß des Taishan. Das reicht eigentlich auch, da der Dai Miao der größte und am besten erhaltenste Tempel am Taishan ist, dessen Geschichte mehr als 2.000 Jahre zurückreicht. Auf immerhin 96.000 Quadratmetern ist er der Verbotenen Stadt in Peking nachempfunden und wird von von uralten Zypressen umsäumt. Nach Toontown und Disneyland in den letzten Wochen eine wohltuende Abwechslung und endlich einmal ein authentisches Stück chinesische Geschichte.

Auch die Kinder haben viel Spaß. Das liegt vor allem an Xinyao, einem chinesischen Mädchen, das Sarah und Nora im Tempel kennengelernt haben. Etwa zehn Minuten und zwei Innenhöfe lang haben sich die Kinder vorsichtig umschlichen, während wir, die Eltern schon längst intensiv miteinander klönen. Als das Eis gberochen ist, gibt es kein Halten mehr und die Kinder werden zur Hauptattraktion des Tempels.

Das liegt auch an der kreativen Nutzung der architektonischen Gegebenheiten des Tempels, die schnell Schule machen!

Am Nordtor des Dai Miao beginnt eigentlich der Pilgerweg auf den Taishan. Wir heben uns das Pilgern für den nächsten Tag auf und besuchen lieber den Freßmarkt vor dem Haupteingang, der das morgen beginnende Tempelfest ankündigt.

Liebe Dönerverkäufer in Neukölln, von dem Herrn könnt Ihr Euch noch eine Scheibe abschneiden!

Einige Sache verändern sich radikal, wenn man Kinder hat. Eigentlich würden Zornica und ich niemals einen Bus oder eine Seilbahn auf einen heiligen Berg nehmen. Zumindest in der Kombination unserer Reisen haben wir fast alle heiligen Berge China bestiegen, sei es buddhistisch oder daoistisch. Selbst die meisten lokalen heiligen Berge haben wir schon besucht: Immer zu Fuß, immer ohne Hilfe. Und immer mit einem kräftigen Muskelkater am Tag danach.

Denn: Heilige Berge in China sind gut erschlossenen Berge. Sprich: Es führen Treppen vom Fuß bis zum Gipfel. Das setzt, vor allem auf dem Weg bergab, auch der trainiertesten Muskulatur zu.

Und von den mit Treppen erschlossenen Bergen ist der Taishan unbestritten die Nummer eins!

Aber: Anders als der Kaiser, der die in Stufen ausgeschlagene zentrale Route in Ermanglung von Alternativen wählen mußte, hat der moderne Besucher die Wahl zwischen der zentralen Route, der westliche Route oder der Kombination aus Bus und Seilbahn, die ihn, in der Hochsaison, zusammen mit bis zu 60.000 Menschen (die Rekordzahl vom 1. Mai 2001) auf den Gipfel bringt.

Unsere Kinder sind eine gute Ausrede, die komfortable Bus/Seilbahn-Kombi zu wählen. So sind wir in weniger als zwei Stunden auf dem Gipfel, Nudelsuppenpause eingeschlossen. Das hat seinen Preis: Wir zahlen über 100 Euro an Bus/Seilbahn- und Eintrittstickets. Ein kräftiges Loch in unser ohnehin angespannten Urlaubskasse.

Aber der Berg ist es wert!

Auf dem Weg zum Gipfel treffen wir vor allem auch Xinyao und ihre Eltern wieder. So wird jeder Stein auf dem Weg bestiegen, erklommen und besprungen!

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Das Wichtigste, wenigstens für die meisten chinesischen Besucher ist jedoch das Erinnerungsbild auf dem heiligen Berg. Der Erfinder des Selfies war sicherlich ein Chinese!

Kurz vor Sonnenuntergang verabschieden wir uns von unseren neuen chinesischn Freunden, die heute noch zurück nach Xi’an wollen. Ihr Zug geht in zwei Stunden, da müssen sie sich sputen!

Wir lassen uns ein wenig mehr Zeit und kommen bei einsetzender Dunkelheit am Fuß des Berges an. Die Suche nach einem Taxi gestaltet sich dann schwieriger als gedacht. Etwas zehn Taxen stehen am Ausgang des Berges bereit, auf der Suche nach hilflosen Opfern. 30 Yuan ist noch das günstigste Angebot, das wir bekommen, mehr als dreimal der normale Preis.

Die Kinder quängeln und wir sind müde. „Lass es uns da unten versuchen!“, schlägt Zornica vor. „Da sind keine Taxis, da ist ja noch nicht einmal eine Straße!“, gebe ich zu bedenken, trotte dann aber trotzdem hinterher.

Zehn Minuten später sind wir wieder zurück, haben uns kurz angegiftet und sind ziemlich geladen.

Ein Polizist steigt aus seinem Streifenwagen und begrüßt die Taximafia mit Handschlag.

OK, so läuft das also, denke ich mir und fange an, wie immer, wenn ich in China richtig sauer bin, auf Deutsch mit den Chinesen zu reden.

„Ihr steckt also alle unter einer Decke!“, rufe ich den Taxifahrern zu. „Bestechung, Betrug und Vetternwirtschaft, wenn das die Regierung wüsste!“

„Ting bu dong, wir verstehen nichts!“, kommt es mit einem Lachen zurück. Die Taxifahrer nehmen den Polizisten in den Arm und rufen: „Pengyou, women dou shi pengyou!“ Freunde also, mit der Polizei. Im Subtext: Der tut uns nichts!

Darauf habe ich gewartet und es beginnt das Familientheater.

„Ihr steckt also unter einer Decke!“, ruft Zornica in ihrem geschliffensten Chinesisch.

„Lass doch!,“ rufe ich auf Chinesisch. „Gegen die Korruption kommen wir doch nicht an!“

Damit haben wir die entsprechende Aufmerksamkeit.

Ich gehe in die Offensive.

„Eigentlich sollte die Polizei dem Volke dienen, oder? Es gibt auch in China Gesetze, die den Umgang von Taxifahrern und Fahrgästen regeln, oder? Und die Polizei sollte eigentlich darüber wachen?“, spreche ich den Polizisten direkt an, der sichtlich kontaniert ist.

„Es geht ja um den Aufbau einer gerechten Gesellschaft, oder? Das spielt eine ehrliche Polizei doch eine wichtige Rolle!“ Vier Semester habe ich mich im Studium mit politischen Kampagnen beschäftigt, das Vokabular sitzt!

„Ihr seid also Freunde!?“, legt Zornica nach. „Daher bekommen wir jetzt als Familie mit zwei kleinen Kindern kein Taxi zu einem gerechten Preis?“

„Nein, neim, dem ist nicht so!“, stammelt der Polizist und heischt einen Taxifahrer an, dass er uns zum Taximeterpreis ins Hotel fahren soll.

Der grummelt ein wenig, erklärt sich dann aber bereit, uns zu befördern.

„Alles ein Mißverständis“, erklärt er und setzt uns zehn Minuten später am Hotel ab.

Besser den Frust nach außen kehren, als sich gegenseitig anzugiften, da sind sich Zornica und ich uns einig!

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