Der Plan ist denkbar einfach: Wir wollen die hier an der Grenze der Provinzen Liaoning und Hebei gut ausgebaute und am Meer entlang führenden „Meeresuferstraße“ in Richtung Südwesten fahren, soweit wir es heute schaffen. Dann eine schöne Unterkunft am Meer und ein wenig Strand.
Die Realität ist auch denkbar einfach: Wir schaffen es gerade einmal 20 Kilometer.
Dabei hatte der Tag wunderbar angefangen. Wir schaffen es für unsere Verhältnisse, früh loszufahren, um 10:30 Uhr. Wir fahren das kleine Stück am Strand entlang, dann zwei Kilometer in Richtung Xingcheng und biegen dann auf die Meeresuferstraße ein.
Diese führt hier eindrucksvoll nicht am Meer entlang, sondern nonchalant direkt über das Meer, in einer Abfolge von Viadukten. Da gerade Ebbe ist, fällt uns das erst spät auf. Bei Flut muss die Straße noch eindrucksvoller sein!
Die exponierte Trassenführung hat aber auch seine Schatten- und vor allem seine Windseiten. Für uns heißt das schon auf den ersten Kilometern ein ständig stärker werdender Gegenwind. Nicht ganz so heftig wie auf dem Weg nach Xingcheng, aber stark genug, dass wir nach besagten 20 Kilometern beschießen, zur Staatsstraße ins Landesinnere abzubiegen.
Das bedeutet fünf Kilometer Rückenwind, wir fliegen dahin, freuen uns und werden zusätzlich vom ersten Wegweiser nach Peking motiviert!
Der Wind auf der Staatsstraße 102 ist tatsächlich schwächer, wenn auch immer noch stramm. Der Verkehr hält sich, obwohl dies eine der Hauptverbindungen in Chinas Nordwesten ist, auch in Grenzen. In dieser Gegend läuft der Schwerverkehr tatsächlich über die parallele Autobahn, anders als in Shandong!
Unsere Freude währt jedoch eher kurz. Nach zehn Kilometern wird der Wind wieder stärker und ist nun genauso schwierig zu navigieren wie direkt am Meer. 20 Kilometer vor Suizhong, der nächsten größeren Stadt und designierten Übernachtungsstation steigen Zornica und die Kinder mit dem Gepäck daher auf ein Tuk-Tuk um.
Dadurch wird die Familienkutsche zwar leichter, aber auch windanfälliger. Oder ist es die zunehmende Windstärke? Wahrscheinlich beides. Jedenfalls erwischt mich auf einer besonders windexponierten Brücke eine Böe und drückt mich gegen die Leitplanke. Außer Scheppern ist nichts passiert. Die Lust am Weiterfahren ist mir jedoch vergangen. Glücklicherweise reicht der Schwung der Brücke bis in das nächste Dorf und dort steht ein Transporter, der mich nach kurzer Verhandlung und großer Anteilnahme der etwa 50 umstehenden Schaulustigen (geschätzt die Hälfte der lokalen Bevölkerung) für einen fairen Preis nach Suizhong bringt.
Suizhong ist ein ziemliches Nest, achtet aber wie so viele chinesische Städte auf die adäquate Nachtbeleuchtung:
Schlimmer kann’s nicht werden, denken wir uns, wollen uns aber nicht darauf verlassen. Entsprechend bewege ich die Familienkutsche einen weiteren Tag allein über die Staatsstraße 102, während die Familie die Bahn nach Shanhaiguan nimmt. Mit unseren Kindern sind uns die heftigen Böen einfach zu gefährlich.
Es sollte sich als gute Entscheidung erweisen, zumindest für Zornica, Sarah und Nora. Mir beschert die 80-Kilometer-Solofahrt einen weiteren Horrortag auf dem Tandem. Der Wind pfeift die ganze Strecke lang von links vorne, gegen Ende sogar direkt und unerbittlich. Dagegen wehte entlang der Seidenstraße zuweilen ein laues Lüftchen!
Mehrmals überlege ich, mir eine Mitfahrgelegenheit zu suchen. Dann geht es aber wieder einmal drei Kilometer bergab und eine Baumallee fängt den Wind ab. Auf Meereshöhe angekommen geht es dann wieder 100 Höhenmeter nach oben und die Bäume werden rar.
Als ich 15 Kilometer vor Beidaihe nach Süden, sprich ans Meer abbiege, habe ich für ganze fünf Kilometer Rückenwind, obwohl es direkt nach Süden, also gegen die Hauptwindrichtung geht. Und bergab geht es auch noch! Die nächsten zehn Kilometer quäle ich mich dann nach Westen bergauf und gegen den Wind. Dann wieder bergab und durch ein Industriegebiet mit der einen oder anderen Werft.
Inzwischen tut mir jeder Muskel weh und das Gehirn schreit: „Aufhören!“
Ich erinnere mich an die Veteranen in den Anfangszeiten der Tour de France, die, um die Strapazen auszuhalten, gerne auch mal zur Mittagspause eine Flasche Rotwein leerten. Da kommt ein mobiler Verkaufsstand am Werfttor, wohl primär auf die Pausen- und Feierabendversorgung der Werftarbeiter ausgerichtet, ganz recht und ich kaufe mir eine Flasche, die von außen wie Qingdao aussieht, aber von innen wie Laternenpfahl ganz unten schmeckt. Das merke ich aber erst, als ich den ersten kräftigen Schluck genommen habe. Die halbvolle Flasche bleibt konsequenter Weise am Straßenrand stehen und wird am nächsten Supermarkt an der Schnittstelle zwischen Indsutriegebiet und Touristenmeile durch ein echtes Yanjing ersetzt, mein Lieblingsbier aus Peking.
Dieses genieße ich dann mit Meerblick und die Muskeln entspannen sich.
Zwei Kilometer weiter sehe ich unser Hotel und meine Familie kommt mir auf dem Weg zum Strand entgegen.
Die Familie legt sich an den Strand, ich mich auf’s Bett. Vom Meer weht eine frische Brise.
Der erste angenehme Wind am heutigen Tag!
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