Nach dem gestrigen Großverkehrstag wollen wir heute die Nebenstraßen versuchen, die es hier im Gegensatz zu gestern gibt. Wenn man sich die Landkarte der Halbinsel Liaodong anschaut, wird klar, dass der gestrige Tag gar nicht anders verlaufen hätte können. 20 Kilometer ist die Halbinsel nördlich von Dalian gerade mal breit, und da müssen zwei Autobahnen, eine Schnellbahn, eine Bummelbahntrasse und dazu zwei Staatsstraßen und etliche Landstraßen durch. Der Verkehr scheint sich relativ gleichmäßig zu verteilen, viel Luft ist da jedenfalls nicht!
Heute also Erkundungsfahrt durch die Backwaters. Im Wortsinne: Wir fahren die Küste Liaodongs ab, die hier ähnlich zerklüftet ist wie Norwegen. Nein nicht wirklich, uns kommt es aber so vor, als wir buchtein-buchtaus der Küstenlinie folgen.
Immerhin kürzte eine riesige neugebaute Brücke, die auf keiner Karte eingezeichnet war, unsere Reise um 20 Kilometer ab. Mit großen Augen fahren wir eine achtspurige Straße durch ein gerade im Entstehen begriffenen Neubauviertel, das im Moment aber eher wie eine Stadt nach einer Nuklearexplosion aussieht. Oder wie von Christo verpackt, wie Zornica bemerkt. Eher wie von Christo verpackt und von unseren Kindern wieder ausgepackt, würde ich anmerken.
Ein paar Minuten radeln wir als einziges Fahrzeug auf der „Binhai Dadao“, der „Meeresuferstraße“, einem Großprojekt, das zum Ziel hat, eine durchgehendeStraße von Dandong an der koreanischen Grenze bis nach Qinhuangdao zu bauen, insgesamt 1.443 Kilometer. Ein kleines Stück sind wir schon auf dieser Straße geradelt und werden es noch tun, wissen aber nicht so richtig, was sie denn eigentlich darstellen soll. Eine schnelle Küstenverbindung für den Fernverkehr? Parallel verläuft die deutlich besser ausgebaute Autobahn. Eine Panoramastraße? Die Hälfte der Straße führt durch stinkende Industriegebiete und Hafenanlagen. Ein Prestigeprojekt? Da kommen wir der Sache schon näher!
Wie dem auch sei: Nach drei Kilometern endet das Projekt hier an einem Erdwall, auf dem die Autobahn führt. Der nicht vorhandene Verkehr wird auf die alte Landstraße geleitet, die durch die Dörfer und Felder führt. Eben noch großspurig urban, gibt sich China nun ländlich-sittich. Uns ist das sehr recht! Auf der breiten Straße mit neuem Flüsterasphalt lässt sich zwar vortrefflich sollen, interessant ist dies aber nur ein paar Minuten, dann nutzt sich das ab. Außerdem pfeift der Wind ungehindert über die Straße, sehr zu unserem Leidwesen.
Nun geht es zwar recht wellig dahin, was das Fortkommen mit unserem 250-Kilo-Boliden auch nicht einfacher macht, die Aussichten von oben auf die Bucht sind jedoch die Anstrengung und den einen oder anderen geschobenen Meter wert!
In einem kleinen Dorf machen wir Rast und sind wie so oft Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Während die Männer fachsimpelnd um unsere Familienkutsche schleichen, haben es den Frauen vor allem unsere Kinder und Sarahs Puppe („Das Baby“ in Sarahs Definition) angetan. Die Männer bewundern die hydraulische Bremse, die Frauen die „blonden“ Haare unserer Kinder.
Hundert Meter hinter dem Dorf führt dann die Schnellbahntrasse über die Straße, eine weitere befindet sich in Bau. Ob in zwei Jahren auch hier die Hochhäuser stehen?
Nach vier weiteren Hügeln, die sich für uns wie Berge anfühlen, haben wir genug von der Küstenstraße und biegen ins Landesinnere ab. Am späten Nachmittag erreichen wir schließlich Paotai. Moment mal – Paotai, die Kleinstadt, zu der schon vor drei Stunden ein Wegweiser führte, noch vor den vielen Hügeln?
Wir fragen eine Passantin: Ja, dies wäre Paotai, und in zwei Kilometern würden wir die Staatsstraße erreichen.
Die Staatsstraße, die wir vermeiden wollen. Ein Blick auf die Landkarte bestätigt: Wir sind zwar nicht wirklich im Kreis gefahren, haben aber einen ziemlichen Bogen nach Paotai gemacht, wo es geradeaus viel schneller gegangen wäre. Etwas frustriert satteln wir ab und quartieren uns im besten, weil einzigen Hotel der Stadt ein. Immerhin, die Kinder kommen auf ihre Kosten: Im Speisesaal wird ein Kindergeburtstag gefeiert, der erste und wichtigste im Leben eines chinesischen Kindes. Entsprechend pompös fällt das aus. „3000 Gäste!“, erzählt uns die Tante des Kindes.
„Kann ich auch mal so Geburtstag feiern?“, fragt Sarah. „Oh ja!“, stimmt Nora zu.
„Die Chinesen feiern aber nur den ersten Geburtstag so groß und dann eigentlich gar nicht mehr!“, gebe ich zu bedenken.
„Oh menno!“, sagt Sarah. „Dann feiern wir immer ersten Geburtstag!“, schlägt Nora, wie immer praktisch veranlagt, vor.
Um die Ecke finden wir ein kleines unprätentiöses Restaurant und genießen den Sonnenuntergang und das ausgezeichnete Essen.
Für uns ist klar: Morgen lassen wir die Finger von der Ufer- und der Staatsstraße und versuchen unser Glück auf den normalen Nebenstraßen.
Tatsächlich wir es eine unserer schönsten Touren auf der Reise, ein wenig hügelig, aber auch dadurch landschaftlich sehr interessant und mit wenig Verkehr.
Kurz vor Yongning, unser Übernachtungsstation, haben wir in einem kleinen Dorf eine der wenigen negativen Erlebnisse bisher. Normalerweise werden wir überall neutral bis enthusiatisch aufgenommen.
Während Zornica und die Kinder die Kühltruhe des lokalen Tante-Wang-Ladens nach dem jeweiligen Lieblingseis durchsuchen, umringen mich und das Fahrrad eine Gruppe chinesischer Männer, die bis dahin an der gegenüberliegenden Autowerkstatt saßen.
„Was fällt Dir ein!“, herrscht mich ein älterer Mann um die 60 an, „mit der chinesischen Fahne durch’s Land zu fahren!“
Dann wendet er sich an die anderen Männer: „Von der chinesischen Staatsräson hat der doch keine Ahnung! Er beschmutzt unser Land und unsere Fahne!“
Das habe ich so noch nicht erlebt. Vor allem nicht in dieser feindseeligen Deutlichkeit. 2008 am Ende der Eulentour haben wir mit 32 Radfahrern, zehn großen chinesischen und deutschen Fahnen auf dem Tian’anmen-Platz eine Ehrenrunde gedreht und die damals, kurz vor der Eröffnung der Olympischen Spiele garantiert nicht geringe Polizeipräsenz hat sich nicht daran gestört. Die Fahne haben wir ja zudem von einem Chinesen geschenkt bekommen. Was will der Kerl von uns?
„Was willst Du überhaupt hier?“, fährt er fort.
„Der versteht nicht!“, raunen sich einige der Männer zu.
„Was jetzt, die Staatsräson oder Chinesisch?“, frage ich in die Runde. „Letzteres verstehe ich. Eure Staatsräson geht mich ehrlich gesagt nichts an!“
„Dann nimm die Fahne runter!“
Ich beschließe, den Kerl nicht für ernst zu nehmen und möglichst schnell das Weite zu suchen. Ich fühle mich nicht richtig bedroht, aber doch unwohl. In den 25 Jahren, die ich durch China reise bin ich einmal mit dem Messer bedroht worden, einmal wurde mir das Mobiltelefon und zweimal das Fahrrad geklaut. Das war’s an brenzlichen oder unangenehmen Situationen. Gut, einmal hat mich an der Seidenstraße ein offensichtlich geistig in der Kulturrevolution hängengebliebener pensionierter Kader „verhört“, bevor sein Nachbar vorbeischaute und mir bedeutete, dass der Mann nicht mehr ganz richtig ticke.
Was anscheinend bei dem Mann von heute auch der Fall ist. Sicherheitshalber sammle ich meine Familie so schnell es geht beim Tante-Wang-Laden ein und wir fahren weiter.
Über den nächsten Hügel schallt uns dann ein lautes Donnern entgegen.
„Ich habe Angst!“, schreit Sarah und Nora fängt zu wimmern an.
Mit lautem Getöse und schriller Musik kommt uns mal wieder eine Beerdigungsprozession entgegen.
In Yongning haben wir dann fast ein Deja-Vu: Das Hotel sieht dem der letzten Nacht zum Verwechseln ähnlich. Nur dass im Restaurant kein Kindergeburtstag stattfindet.