Hört sich wie Vögelzwitschern an…

Vorsichtig ziehe ich den Vorhang zur Seite und erwarte einen weiteren Regentag. Stattdessen wirft die Sonne die ersten Morgenschatten über das Kopfsteinpflaster. Ist das die Wetterwende? Angesagt war sie, aber wir hatten gestern eigentlich fast schon die Hoffnung verloren!

Warm ist es aber trotzdem nicht. Sarah möchte das warme Bett nicht verlassen und Nora kuschelt sich instinktiv enger an Zornica, als ich das Fenster aufmache.

DSC00396

Entsprechend widerwillig lassen sich unsere Kinder überreden, wieder Rad zu fahren. Gerne würde ich in ihre Gedanken schauen und wissen, was sie sich bei unserer Reise wirklich denken. Wenn ich Sarah frage, wie ihr die Reise gefällt, sagt sie: „Super, China ist so schön!“

Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie die viele Schokolade meint, die sie in den Radpausen ausnahmsweise verzehren darf oder die Momente, wo sie vom maßlosen Kitsch, den der chinesische Alltag bereithält, so fasziniert ist, dass sie vergisst, dass es hier keine Kita gibt, dass es zuweilen recht kalt auf dem Anhänger ist und jeder ein Foto von ihr machen möchte. Nora sieht das eher situativ: Für sie ist Berlin nur einen Augenblick entfernt, jeder schöne Moment schön und jeder Ärger blöd. Das spielt es keine Rolle, ob wir in China oder in Deutschland sind, Radfahren oder in der U-Bahn sitzen. Hauptsache, sie hat ihren Nunu (Schnuller) und Mama oder Papa zum Kuscheln. Beneidenswert!

Gegen 11:00 ist die Familienkutsche dann endlich abfahrbereit. Wir steuern das Frühstücksrestaurant von gestern an, was höchste Aufmerksamkeit erfordert, da vor uns eine chinesische Touristengruppe zwischen Schockstarre und Fotographierlust schwankt, als sie uns sieht, einmal quer über die ohnehin schmale Uferpromenade ausschwärmt und uns dabei fast in den Kanal manövriert. „Kaobianr, zur Seite!“ rufe ich, und Zornica lässt die chinesische Fahrradklingel heiß laufen. Schließlich erreichen wir trocken und unversehrt unser seit gestern liebgewonnenes Restaurant und bestellen „das Gleiche wie gestern!“. Zwei Maultaschensuppen und zweimal Nudeln ohne alles. Fühlt sich gut an!

Vor dem Restaurant bildet sich der übliche Menschenauflauf. „Tolles Gefährt! Bei Regen aber nicht so ideal!“, stellt ein Mann in den 60ern fest. Da sagt er was! „Gibt es das Rad in China?“ ist eine häufige Frage. Gefolgt von einem ungläubigen Staunen, dass so etwas in ein Flugzeug passt. Wieviel das Rad denn kostet, ist eine Frage, die ich nur ungern beantworte. Zwar fahren inzwischen auch Chinesen mit Rädern im 3.000-Euro-Bereich durch das Reich der Mitte, die Summer 5.000 Euro kommt mir aber trotzdem schwer von den Lippen. In Nanxun ist das wahrscheinlich in etwa ein durchschnittliches Jahresgehalt. Geschockt ist von der Summe aber dennoch keiner. „Fast so teuer wie ein Auto!“, konstatiert der Mann mit der Regenbemerkung trocken. „Aber viel gesünder!“

_DSC6643

Rad-Experten gibt es viele in China. Es sind vor allem die alten Männer, die noch auf dem traditionellen „Phoenix“-Rad ihr halbes Leben verbracht haben und Jugendliche, die uns nach der Familienkutsche fragen und durchaus sachkundige Bemerkungen machen. „Eigentlich sollten die Chinesen mit Eurem Rad fahren!“, sagt der alte Mann traurig. „Wir sind doch das Königreich der Radfahrer! Na ja, wir waren es mal, jetzt sind wir eher das Königreich der Autos!“

So schallt uns auch ein vielstimmiges Hupen entgegen, als wir in den Stadtverkehr von Nanxun einbiegen, das ja deutlich größer ist als sein alter Teil. Auf einem geschwungenen Viadukt rollen wir auf die Bundesstraße und biegen dann in Richtung Taihu ab. Nach guten zehn Kilometern haben wir den See erreicht und folgen dann der neu gebauten Uferstraße. Vier Spuren und auf beiden Seiten ein breiter Radweg, fast ganz für uns allein! Mal mit, mal gegen den Wind sausen wir an Lotusteichen und Krebsfarmen vorbei. Alle paar Minuten überholt uns ein einsames Auto und hält kurz an, um ein Foto von uns zu machen.

_DSC6666

Das mit der Uferstraße muss sich anscheinend erst einmal herumsprechen. In Deutschland hätten wir hier in jeweils ein paar Kilometern Abstand einen Parkplatz mit Aussichtsplattform und Imbissbude mit Fischbrötchen und Currywurst. Allerdings: Auf Rügen 1991 gab es neben ein paar Broilerbuden eben auch den obligatorischen Chinaimbiss als einzige Mittagsmöglichkeit. An den Chinesen kann es also nicht liegen, auch nicht am Willen, dass hier kein Supermarkt, keine Garküche und kein Restaurant am Ufer gebaut wurde. Ich frage kurz bei einem der Männer nach, der an einer neu errichteten Haltestelle auf den Bus wartet.

„Umweltschutz!“, sagt er.

Fast bin ich versucht zu lachen. Der Taihu galt bis vor wenigen Jahren als tot, einer der verschmutzten Seen Chinas. In den 1990er Jahren hatte ich in Dali, Yunnan, ein deutsches Pärchen kennengelernt, das jahrelang im Yangzidelta lebte und, sobald die Gerüchte um eine drohende Umweltkatastrophe rund um den Taihu konkreter wurden, nach Dali umgezogen war. Jahrzehntelang gingen die Abwässer der umliegenden Chemiefabriken ungefiltert in den See, dazu diente der See als Flutbecken für den Yangzi und bekam dadurch eine zusätzliche gehörige Portion Überdüngung und Verschmutzung mit. 2007 kippte er schließlich um. Was seitdem passierte, darüber streiten sich die Geister. Während die Regierung für sich in Anspruch nimmt, den See mit umfassenden Maßnahmen gesäubert zu haben, behaupten Umweltschützer, es hätte sich nichts geändert.

Wie auch immer: Als ich 2009 zum letzten Mal am Taihu war, stank er zum Himmel. Heute sah er ziemlich klar aus und wehte uns eine angenehm frische Brise entgegen. Als wir nach gut 30 Kilometern auf einen ausgedehnte Radinfrastruktur mit Panoramaradweg treffen, ist uns klar, dass sich hier auf jeden Fall eine Lokalregierung Gedanken macht, wie erfolgreich auch immer. In regelmäßigen Abständen kommen uns Trainingsgruppen der lokalen Radsportvereine entgegen, eine kanarienvogelbunter als die andere. Ein kurzer Gruß, dann sind sie schon vorbeigesaust.

Auch wir sind gut unterwegs, müssen aber gegen 16:00 Uhr einsehen, dass wir es heute nicht mehr bis Yixing schaffen werden. Ist auch nicht weiter schlimm, eilig haben wir es nicht. Bei der Ortschaft Jiapu hört der Uferradweg auf, das nehmen wir als Anlass, nach einem Hotel zu suchen. Wir biegen auf die Hauptstraße ab. Plötzlich höre ich einen Knall und ein Schleifen. Vor mir gestikulieren schon zwei ältere Männer. Das war sicherlich keine Cola-Dose. Das war unser Fahrrad.

Ich stoppe die Familienkutsche und balanciere sie aus. Zornica stellt die Füße auf den Boden. Inzwischen sind wir ein eingespieltes Team, wenn es darum geht, unseren Boliden abzustellen.

Ein Blick nach hinten: Der Gepäckträger hält. Die Kette des Anhängers ist gerissen…

„Jetzt kann ich nicht mehr mittreten!“ weint Sarah.

Zum Lachen ist mir auch nicht zumute. Bei mir setzt jetzt die Reiseleiterroutine ein: Hotel suchen, Gepäck abladen, Rad reparieren. Heute erledigen wir das fast auf einen Rutsch. Vor einem Restaurant hat sich ein Lastenfahrrad quer gestellt. Da wir sowieso anhalten müssen, nutze ich die Gelegenheit, die Fahrerin des Fahrrads zu fragen, wo es ein Hotel gibt und wo wir ein Fahrrad reparieren lassen können. Sie zeigt stumm auf eine gut genährte ältere Chinesin, die mit einer Schüssel Nudelsuppe in der Hand am Straßenrand steht.

„Hotel ist dort hinten, Rad könnt Ihr bei mir in der Halle abstellen und der Radmonteur steht an der nächsten Straßenkreuzung!“, rattert sie lakonisch runter. „Abendessen könnt Ihr hier im Restaurant!“

Das ist eine klare Ansage. Der „Volkslift“ bringt uns in den dritten Stock, wo wir ein leidlich gutes Hotelzimmer mit zwei breiten Betten beziehen. Dann hole ich das Gepäck nach oben, fahre die Familienkutsche an die nächste Kreuzung. Der Radmonteur hat heute leider frei. Die Motorradwerkstatt nebenan schüttelt erst den Kopf, wirft dann aber einen Blick auf unsere Anhängerkette . „Die habe ich tatsächlich da!“, ruft Xiao Li, der Besitzer der Werkstatt. Zehn Minuten später ist die Kette geflickt. Da zahlt es sich doch aus, das unser Anhänger zwar aus den USA ist, jedoch in China gefertigt wird! Als ich Li frage, was ich ihm schulde, schüttelt er Kopf.

_DSC6701

„Für unsere ausländischen Freunde gratis!“, sagt er und aus Erfahrung weiß ich, dass Widerspruch zwecklos ist. Wir machen ein Erinnerungsfoto und die gesammelte Werkstattmannschaft (und ein Dutzend Schaulustige) wünschen uns eine gute Reise.

Im Hotelzimmer haben meine Kinder Familienanschluss gefunden:

_DSC6707

Süßigkeiten und Spielzeuge werden getauscht, dann geht es zum Abendessen. Nora schläft über der Reisschüssel ein, Sarah taut schließlich über einem Smartphone auf und schaut mit der gleichaltrigen Tochter des Hauses den neusten Barbiefilm.

_DSC6735 _DSC6734

Dann ist es Zeit, ins Bett zu gehen. Zornica möchte sich noch eine Massage gönnen. „Sieht aus wie ein Puff!“, warne ich sie. Nach einer Stunde kommt sie zurück und bestätigt meine Annahme. „Die Fußmassage war aber trotzdem gut!“, erzählt sie.
Also gehe auch ich noch einen Stock höher und genieße ebenfalls eine gänzlich unerotische Massage von einer aufgetackelten Dame mit Minirock. War durchaus reell – nur die Federboa der Dame hat zuweilen auf dem Bauch gekitzelt.

2 Comments:

  1. Zornica, Volker:
    Your blog is a delight! What a unique way to spend a holiday in China.
    Godspeed,
    Clinton

  2. Caren Jungclaussen

    Hai!
    Cool, ihr seid wieder unterwegs! Was ein Erlebnis! Ich schaue neidisch u.a. auf die kulinarischen Fotos, ihr werdet meinen Alltag bereichern! Der Einstieg nach dem Ausstieg ist not amusing. Aber es gibt ja Perspektiven…
    Liebe Grüße von C&W aus HH

Schreibe einen Kommentar zu Caren Jungclaussen Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert