Getrennte Wege

Warm ist es im Zimmer. Das liegt zum einen an der Klimaanlage, die wie abends aktiviert haben und die das Zimmer in angenehme Schlafwärme getaucht hat. Dann aber auch an der Sonne, die selbst durch die dicken Vorhänge dringt:

_DSC6737

Am Wetter soll es heute folglich nicht liegen. Was die Strecke angeht, sind wir skeptisch. Zornica sowieso, seit sie postuliert, dass alles über 65 Kilometer zu viel für die Familienkutsche ist. Aber auch ich bin skeptisch, ob wir es heute bis nach Maoshan schaffen. Immerhin haben wir gestern geschätzte 30 Kilometer weniger geschafft als geplant. Das macht dann etwa 120 Kilometer bis nach Maoshan. Illusorisch, selbst mit einem Trekkingbike wäre das bei den augenblicklichen Gegenwindverhältnissen eine Gewalttour!

Und Maoshan muss es sein! Zornica hat immerhin die letzten 15 Jahre mit daoistischen Schriften verbracht, da darf einer der wichtigsten daoistischen Berge nicht fehlen auf der Tour, zumal wir sowieso mehr oder weniger daran vorbeikommen.

Während Zornica und ich den Tag besprechen, spielen die Kinder mit dem Tauschobjekt von gestern, das sie der Tochter des Hause abgeluchst haben: Ein bärförmiges Stehaufmännchen aus Plastik, dass auf Nasendruck ein „Da-da-du-da-du-da“ im Helium-Sound spielt. Chinesisches Spielzeug geht glücklicherweise schnell kaputt oder die Batterien sind nach wenigen Tagen alle…

Nach dem zwanzigsten „Da-da-du-da-du-da“ sind wir uns einig: Wir radeln erst einmal bis Yixing und entscheiden dann, wie es weiter geht. Der Backup-Plan ist, dass Zornica und die Kinder in Yixing ein Taxi nehmen und zum Maoshan fahren und ich dann mit einer Zwischenübernachtung in Liyang oder anderswo auf dem Weg nachkomme.

Heute schaffen wir es sogar, kurz nach 10:00 Uhr loszufahren, allerdings erst einmal für 100 Meter. Frühstück muss ja auch sein, und die nächste Garküche lockt mit leckerer Nudelsuppe. Selbst die Kinder schlagen zu, und so geht es dann gegen 10:30 Uhr auf die Straße. Wie erwartet wird der Tag hart. Bis ungefähr hierher ist die letzte Eiszeit gekommen, entsprechend haben wir es hier mit der einen oder anderen Endmuräne zu tun. Nach zehn Kilometern weist ein Schild dann 31 Kilometer nach Yixing aus. Also mehr als zehn Kilometer mehr als geplottet! Soviel zur elektronischen Navigation!

Nach drei weiteren Kilometern taucht auf der rechten Straßenseite ein riesiger Lagerplatz für Taihu-Steine auf. Das sind die bizarren Felsblöcke, die in jedem chinesischen Garten und einigen exklusiven Chinarestaurants weltweit stehen. Hier stehen einige Hundert davon auf einem großen Freigelände. Kaum haben wir angehalten, werden die Kinder unruhig und schwärmen dann aus, um die Steine zu erkunden.

_DSC6740

Derweil erkunden die Angestellten der Firma uns, beziehungsweise unsere Familienkutsche. Fotos werden gemacht und der Chef wittert ein Geschäft. Um sein Handgelenk spannt sich eine teure Kette mit Elfenbeinkugeln, um den Hals hängt eine Goldkette mit Jadeamulett. Ob wir auf Dienstreise seien, fragt er. „Sehen wir so aus?“, bin ich versucht, ihn zu fragen. Stattdessen erkläre ich ihm, dass wir nur Urlaub machen. Falls wir mal einen Taihu-Stein bräuchten, sollen wir ihn anrufen, sagt der Manager und überreicht mir sein Visitenkarte. Falls wir mir der Firma mal an den Potsdamer Platz ziehen, komme ich vielleicht darauf zurück!

Nach der Pause geht es weiter auf und ab und gegen den Wind über die Endmuränen. Das Gewicht unserer Familienkutsche macht sich leider unter diesen Bedingungen entscheidend bemerkbar. Eigentlich hatten wir einen kurzen Stopp in Dingshu eingeplant, eines der Zentren der chinesischen Porzellanindustrie. Ich kennen die Stadt von meinem letzten Besuch vor gut zehn Jahren noch als Dorf mit einigen Manufakturen. Nun erkenne ich nichts mehr wieder und gebe die Suche nach einem der legendären drachenförmigen Erdöfen bald auf. Schade, das hätte ich den Kindern gerne gezeigt. Auch die Strecke zwischen Dingshu und Yixing hat nichts mehr mit der Landstraße gemein, die ich kenne. Sechsspurig plus Radwege geht es die restlichen 15 Kilometer dahin, durch Parkanlagen und Häuserschluchten. An beiden Seiten der Straße stehen neu gebaute Appartementkomplexe, die noch auf Mieter warten. Der Wind pfeift uns entgegen. Schön ist anders!

In Yixing haben die Kinder genug vom Radfahren. Da kommt ein Supermarkt am Ortseingang ganz recht und wir machen Mittagspause. Die Kassiererin versorgt Zornica und mich mit heißem Wasser für den Kaffee, Sarah und Nora schlecken ihr Eis. Gemütlich ist es. Und es wird immer später. Als wir endlich aufbrechen, ist es schon fast 15:00 Uhr. Also greift Plan B. Wir radeln noch bis zur Stadtmitte, besorgen im Buchladen zwei Landkarten der Provinz, eine für Zornica und eine für mich und laden das Gepäck ab. Nach 10 Minuten haben wir ein Taxi gefunden, das Zornica und die Kinder für exorbitante 500 RMB (70 Euro) nach Maoshan bringt.

Derweilen balanciere ich das Restgepäck auf dem Anhänger und setze Kurs auf Liyang, die nächste Stadt. Die Richtung hat sich geändert, damit habe ich so etwas wie Rückenwind. Mit 25 Stundenkilometern fege ich durch das zersiedelte Gebiet zwischen Yixing und Liyang, auf einer Straße, die in Deutschland als Autobahn durchgehen würde, hier aber nur eine Kreisstraße ist, mit breitem Radweg. Nach einer guten Stunde bin ich in Liyang, quartiere mich in einem Hotel ein, bei dem dem Architekten die Phantasie durchgegangen ist, zumindest bei den Zimmern:

_DSC6753

Um die Ecke steht ein neugebautes Einkaufszentrum, das mir auch ein wenig überdimensioniert erscheint:

_DSC6754

Vor 13 Jahren war ich schon mal in Liyang, da war es nur ein einfaches Straßendorf mit einer zentralen staubigen Kreuzung. Von Hotels und Einkaufszentren keine Spur. Seitdem hat sich einiges verändert.

Vor dem Abendessen gönne ich mir noch eine Massage, beziehungsweise lasse ich mich schröpfen. Sieht wild aus, hat aber gegen meine Rückenschmerzen gut geholfen.

_DSC6792

Das Abendessen ist ungewohnt ruhig und ereignisarm – ich vermisse meine Familie. Zornica ruft an und erzählt mir, dass sie gut angekommen ist. Morgen bin ich dann auch am Maoshan!



Powered by China By Bike

Kommentare sind geschlossen.