Das erste Mal

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So langsam werde ich nervös.

Radfahren in China. Eigentlich mein Beruf. Knapp 35.000 Kilometer bin ich in den letzten 22 Jahren durch China gefahren. Entlang der Seidenstraße. Dem Yangzi und dem Mekong folgend. Von Lhasa nach Kathmandu. Durch die Straßenschluchten von Shanghai, Beijing und Kanton.

Routine, dachte ich.
Nur diesmal ist alles anders.

Klar, China ist mein zweites Zuhause, und Radfahren für mich das Normalste der Welt. Doch in zwei Wochen geht es los und Zornica sitzt gebeugt über ihrem Schreibtisch und schreibt sich die Seele aus dem Leib. Über klassische chinesische Gedichte, fast 2.000 Jahre alt.

Wunderbar, finde ich.

Das Thema. Ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren.

Aber warum jetzt? Weniger als zwei Wochen vor unserem Abflug?

Während ich Flugtickets, Hotelbuchungen und Sponsoren jongliere und nebenbei noch China By Bike möglichst besenrein verlassen möchte. Sicher, die Kollegen kommen auch zwei Monate ohne mich aus, haben sie schon des Öfteren geschafft, als ich lange Reiseleitungen gemacht habe. Von Athen nach Peking. Von Hongkong nach London. Aber diesmal fühlt es sich anders an!

Warum eigentlich?

So langsam fällt mir ein, was so alles schief gehen könnte auf unserer Reise. Wenn Turkish Airlines am Check-In genauso unsortiert ist wie bei der Buchung, ist die Radmitnahme schon die erste Sollbruchstelle. In Gedanken mache ich zudem eine Liste von Kleinteilen, die potentiell kaputt gehen könnten. Welche Ersatzteile müssen und wollen wir mitnehmen? Sollte ein Schwalbe-Reifen nicht ohne Probleme 3.000 Kilometer durchhalten? Was kann bei einer Rohloff-Schaltung eigentlich kaputtgehen? Ein Satz Bremsschuhe sollte auf vorwiegend ebener Strecke eigentlich reichen, oder?

Was, wenn jemand einen Tag vor der Abreise unser Tandem oder den Anhänger aus unserem chronisch unverschlossenen HInterhof klaut? Während ich dies schreibe, steht das Tandem vor der Tür meines Lieblingsrestaurant Dr. To’s in Berlin Kreuzkölln, während ich einen herrlich marinierten chinesischen Schweinebauch und ein Tuna Tadaki genossen habe, immer in der Hoffnung, dass kein zufällig vorbeiziehender Hippster mit Bolzenschneider Gefallen an unserer Familienkutsche findet.

So kenne ich mich eigentlich gar nicht. Wer sollte schon einen 30 Kilo schweren Boliden klauen, den er dann sofort auseinandernehmen und in Einzelteilen verscherbeln müsste, weil gerade einmal 40 Exemplare davon durch die westliche Hemisphäre rollen?

Entspann Dich, sage ich mir und denke sofort an meine Familie, die noch nie eine längere Radtour gemacht hat. Sarah liebt unseren Weehoo-Anhänger („der kleine Anhänger“ im Familienjargon). Nora hasst ihn und präferiert den „großen Anhänger“, unseren Chariot-Zweisitzer. Weil wir mit dem Weehoo zweimal umgefallen sind; Regen auf Berliner Radwegbegrenzung, das kommt nicht gut!

Beider Kinder hassen es, von wildfremden Menschen fotografiert und geherzt zu werden. Zwei, zumindest für chinesische Augen „blonde“ Kinder, auf Radtour durch China. Da sind Menschenauflauf, Blitzlichtgewitter und Fotopose garantiert.
Wollen wir das unseren Kindern wirklich zumuten?

Wie werden sie reagieren, wenn uns einer der berüchtigten chinesischen Zweitakter mit dem Einheitsmotor überholt und in schwarze Dieselwolken hüllt?
Können wir die Kinder auch für Maultaschen mit einer anderen Füllung als Shrimps begeistern?

Findet Sarah den chinesischen Reisbrei zum Frühstück immer noch so gut wie vor vier Jahren?

Kurzzeitig dachte ich sogar darüber nach, eine Reisetoaster zu kaufen, da die Kinder ihr Frühstückbrot gerne warm und crisp haben.

Und dann sagte ich mir, wenn ich es seit zwanzig Jahren schaffe, deutsche Radler im fortgeschrittenen Alter von den Vorzügen eines original chinesischen Frühstücks in einer Straßengarküche zu überzeugen, dann schaffe ich das auch mit meiner Familie.

35.000 Kilometer in 22 Jahren in China, auf dem Fahrrad.

Und zum ersten Mal habe ich Muffensausen!
Fühlt sich fast gut an!

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