Müd- und Traurigkeit

Wie viele chinesische Kleinstädte kann man besuchen, ohne irgendwann mental Amok zu laufen?

Wie oft kann man die Fragen „Woher kommst Du? Was machst Du? Sind das Deine Kinder?“ beantworten, ohne ein einziges Mal eine sinnvolle Konversation zu haben? Wie oft radelt man durch die chinesischen Vorstädte und hat ein billiges Deja-Vu aus Sachsen-Anhalt: Baumarkt – Supermarkt – Baumarkt – Autowerkstätte – Supermarkt – Möbelhaus – Tankstelle – Puff. In der Endlosschleife.

Und dann sind es Tage wie heute. Wir haben gestern Familiensitzung gehalten. Sarah rief: „Ihr habt das entschieden und wir müssen das jetzt machen! Das ist nicht fair!“ Die Frau hat Sinn für Gerechtigkeit. Und fühlt sich nun nicht ernst genommen. Sie will Kita, Eisbox, Großeltern, unsere Wohnung. Eigentlich nicht wirklich. Aber sie hat genug vom Radfahren.

Das hat sie mit allen Mitgliedern der Familie gemeinsam. Wir haben momentan die Schnauze voll.
Vom Radeln, vom Nomadendasein, von China. Nein, nicht von China, aber von Shandong.

Ich weiß, wir haben Shandonger unter den Lesern und Menschen, die hier studiert haben. Aber bitte, nichts für ungut: Wir wissen inzwischen, warum die Shandonger die Ostfriesen Chinas sind. Also keine wortkargen Inselbewohner, sondern eben die Landsleute, die komisch genug für den Rest des Landes sind, als dass man treffend Witze über sie machen kann. Zentral-Shandong: Der Kaiserkanal biegt nach Westen ab, das Meer ist zu weit weg, hier war über Jahrhunderte nicht viel los. Als Fremder geht es einem hier in der Regel wie in der Flens-Werbung:

„Tolles Rad hatte der Junge!“

„Schicken Anhänger, für zwei Kinder!“

„Und Chinesisch konnte er!“

„Genutzt hat es ihn aber nichts!“

Heraus kommen dann Konversationen, die ins Nichts schlittern, ehe man sie angefangen hat. „Hilfe, es spricht!“, denkt sich der Shandonger beim Anblick eines Ausländers. Oder, wie ein Chinese mich einmal vor zwanzig Jahren fragte: „Kann ich plötzlich Ausländisch, oder sprichst Du Chinesisch?!“
Normalerweise lache ich über diese Szenen. Nun bin ich aber für zwei bis drei Tage ohne Familie unterwegs, die ihre Wunden leckt und sich einen lauen Lenz macht. Nein, nicht wirklich. Aber: „Lass das mal den Papa machen, der Papa macht das gut!“, singen meine zwei Mädchen, als ich aus dem Hotelhof rolle. Die Familienkutsche fährt weiter. Mit Ein-Mann-Besatzung. Und ich bin traurig.

Dazu kommen: Eine akute Nebenhöhlenentzündung, vier Backenzähne, die bei jeder Berührung und bei jedem Reiz höllisch schmerzen. Nach acht Jahren bin ich kurz vor der Reise mal wieder zum Zahnarzt gegangen, das habe ich nun davon! Meine Lieblingsvorspeise, kalt mit Knoblauch angemachte Gurken: Eine Schmerzorgie. Kaltgetränke: Nicht dran zu denken! Heißer Kaffee: Auch keine gute Idee!

Entsprechend schlecht gelaunt fahre ich am frühen Mittag durch Baumarkt – Supermarkt – Baumarkt – Autowerkstätte – Supermarkt – Möbelhaus – Tankstelle – Puff. In der Endlosschleife. Dann an kleinen Seen entlang und durch Dörfer. Eigentlich ganz schön.

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Ich habe keinen Blick dafür, hätte die Familie gerne dabei, habe Angst, dass die Anstrengungen für Zornica zu viel sind und bin enttäuscht, dass die Kinder bei China im Moment dicht machen. Möchte nicht allein durch China fahren. Vor allem nicht mit einem 80-Kilo-Boliden durch Shandong. Aber die chinesische Eisenbahn nimmt keine Räder mehr mit und ein Privattransport wäre für unsere finanziellen Mittel zu teuer. Die Familienkutsche muss also bewegt werden, aus eigener Kraft.

„Lass das mal den Papa machen, der Papa macht das gut!“, singe ich vor mich hin und bin nicht wirklich überzeugt.

Dann kommen die ersten Hügel:

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Das trägt nicht unbedingt zur Motivation bei, vor allem bei anhaltendem Gegenwind.

Wieder eine Stadt.

Baumarkt – Supermarkt – Baumarkt – Autowerkstätte – Supermarkt – Möbelhaus – Tankstelle – Puff.

In der Endlosschleife.

In Shanting quartiere ich mich in der nächstbesten Herberge ein, ein unprätentiöses Businesshotel für umgerechnet 20 Euro für das Einzelzimmer mit Bad.
Gegenüber wirbt ein Qingdao-Bierhaus mit Grill um Kunden. Mit Faßbier und gegrillten Meeresfrüchten bessert sich meine Laune deutlich.

Leicht angeschickert und müde klappe ich mein Notebook auf und lese die Nachrichten.

Erdbeben in Nepal.

Ich denke an Subechhya, Bharat und Baskar, unsere Freunde aus Kathmandu.

Nichts tut mehr weh, die eigenen Problem scheinen furchtbar unbedeutend.

Ich schreibe ein paar Mails nach Nepal.

Und falle in einen unruhigen Schlaf.

3 Comments:

  1. Hallo Volker,

    du scheinst ein bisschen moralische Unterstützung zu brauchen. Auch ich bin gezwungen Rücksicht auf meine Begleiterin zu nehmen. Wir sind zwar nur zu Fuß und nicht mit dem Fahrrad unterwegs, aber die Temperaturen setzen ihr doch ziemlich zu. So bin auch ich hin und wieder gezwungen allein auf Entdeckungsreise zu gehen. Zur Zeit haben wir ein Homestay in Da Lat und kühlen uns ab für die abschließende Hitzeschlacht in Hanoi.

    Liebe Grüße, Sven

  2. Sicher bist du nicht allein unterwegs; virtuell strample ich hinten auf dem fünften Platz!
    Eurer Beiträge sind für mich eine tolle Abwechslung zum mit Besen und Schaufel durch die Baustelle in unserem Haus zu rennen, den Bauarbeitern zu sagen was und wie, den Elektriker zu motivieren, mich bei den Mietern für das abgestellte Wasser zu entschuldigen, …
    Mich motiviert das Lesen, Chinesisch zu lernen 一路顺风

  3. So ist das, wenn man sich was Großes vorgenommen hat, oder?
    Zwischendurch gibt es die unvermeidliche Schlappe.
    Ich wünsch dir gute Besserung für die Zähne und sieh das große Ganze!
    Liebe Grüße aus dem Berliner Alltagstrott!

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